AUFTAKT

 

4. November

Nervöses Schlucken, als das Rufzeichen ertönt.
Dort, wo der Zeigefinger die Maustaste berührt hat, ist ein feuchter Film zurückgeblieben.Das Mikrofon wird hastig noch ein Stück näher an den Lautsprecher gerückt. 

Viel zu schnell hebt er ab. Grußlos, wie immer. »Was gibt’s?«
»Sie will nicht mehr zahlen.«
»Was?«
»Sie will nicht mehr zahlen, weigert sich einfach! Weil ihr das jetzt sowieso nichts mehr bringt…« Unüberhörbare Verzweiflung in der Stimme. Und eine Kehle wie ausgedörrt.
»Okay… Dann verhalte dich einfach ruhig. Mehr können wir jetzt nicht tun.«
»Das ist das Problem. Ich… ich hab die Kontrolle verloren! Hab ihr ziemlich Druck gemacht.«
»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Reiß dich bitte endlich zusammen!«
»Mir wächst das alles über den Kopf. Ich… ich hab im Moment die Nerven nicht …« Viel zu viel Angst, die mitschwingt.
»Das solltest du aber! Willst du, dass alles rauskommt? Dann war’s das, vor allem für dich.«
»Sie will zu den Bullen gehen.« Und das wäre wirklich das Ende.
»Scheiße. Ich lass mir was einfallen.« 

Der erste Hörer knallt auf die Gabel, der zweite folgt. Kraftlos.

 

***

 

»Verdammter Mist!« Entnervt zerrte ich das zusammengefaltete Stück Papier unter Wenzels Scheibenwischer hervor. Das war das vierte Knöllchen innerhalb der letzten beiden Monate! In Gedanken verfluchte ich wie so oft die Hausverwaltung, die mich seit drei Jahren auf der Warteliste für einen Tiefgaragenstellplatz darben ließ. Oder eher verschimmeln.

Mit einem lauten Seufzen schloss ich meinen mittlerweile etwas derangierten rostroten VW Golf auf und ließ mich auf den Sitz fallen. Leider erinnerte ich mich erst beim leisen Knacken unter mir an Hannes’ Sonnenbrille auf dem Fahrersitz – er hatte sie vor ein paar Tagen in meiner Wohnung vergessen. Eigentlich wollte ich sie ihm heute nach der Arbeit vorbeibringen. Frustriert hieb ich gegen das Lenkrad und stieg aus, um den Schaden zu begutachten.

Mein Hinterteil hatte ganze Arbeit geleistet: Die Designer-Sonnenbrille hatte nun ein Design, das man wohlwollend als futuristisch bezeichnen konnte. Mit weniger Wohlwollen besehen war sie, nun ja, einfach Matsch. Warum schleppte Hannes auch im tristen Regensburger November eine Sonnenbrille mit sich herum? Völlig überflüssig, meines Erachtens. Seit Tagen war der Himmel grau und wolkenverhangen, der Nebel lichtete sich, wenn überhaupt, erst am Nachmittag und erweckte den Eindruck beständigen Nieselregens.

Hektisch klaubte ich die Designer-Einzelteile zusammen und warf sie auf den Beifahrersitz, bevor ich mich wieder hinter Wenzels Lenkrad klemmte, mein Handy aus der Handtasche kramte und mit fliegenden Fingern Hannes’ Nummer wählte. Besser gleich beichten, dann war das wenigstens vom Tisch. Das Tuten des Freizeichens strapazierte meine angegriffenen Nerven.

 

Aber es gibt mir die Gelegenheit, mich kurz bei Ihnen vorzustellen – oder mich zurückzumelden, sollten Sie bereits meine Bekanntschaft gemacht haben. Für alle Neuen in unserem trauten Kreis: Es freut mich sehr, dass Sie zu uns gefunden haben. Sie möchten wissen, wer sich da so plumpvertraulich an Sie heranmacht? Also: Mein Name ist Sarah Sonnenberg, ich bin neunundzwanzig Jahre alt und arbeite im Kommissariat 1 der Regensburger Kripo, wo ich mich hauptsächlich mit der Aufklärung von Tötungsdelikten jeglicher Art herumschlage. Das ist halb so spannend, wie Sie vielleicht glauben, aber wahrscheinlich aufregender als ein Job beim Kleintierzüchterverein oder bei der Müllabfuhr von Castrop-Rauxel, insofern können Sie hoffentlich halbwegs beruhigt weiterlesen. (Liebe Kleintierzüchterinnen und -züchter, liebe Castrop-Rauxeler Müllfrauen und -männer: Bitte sehen Sie mir die Mutmaßung nach, Ihre Tätigkeit wäre nicht aufregend! Ich bin sicher, Sie haben eine gute Wahl getroffen! Es ist nur … Tatsächlich bin ich zum Beispiel noch nie über einen Kleintierzüchterkrimi gestolpert. Oder gibt es Abfallentsorgungskrimis? Falls Sie einen kennen, freue ich mich sehr über Ihre Empfehlung!) 

Ich bin zudem glückliche Mieterin einer kleinen, aber feinen Wohnung am östlichen Rand der Regensburger Altstadt, die ich trotz der ständigen Parkplatzprobleme niemals aufgeben würde, und stolze Besitzerin von Wenzel, den Sie ja bereits kennengelernt haben.

So weit die Rahmenbedingungen – alles Weitere werden Sie zu gegebener Zeit über mich erfahren. 

Für diejenigen, die bereits wissen, mit welchem Ausbund an Diplomatie, Charme und Intelligenz sie es hier zu tun haben: Schön, dass Sie wieder hier sind! Sie haben mir gefehlt. Was Sie in den letzten Monaten so verpasst haben? Ach, nicht viel eigentlich. Kein spannender Fall, keine lebensbedrohliche Situation … Wie, privat meinen Sie?

So ein Zufall, gerade jetzt hebt Hannes ab ...

 

»Hallo, Sarah«, hörte ich ihn verschlafen murmeln. »Ist was passiert?«
Normalerweise vermied ich es, Hannes vor neun Uhr morgens zu kontaktieren – sein Job als Werbetexter erlaubte ihm einen späten Arbeitsbeginn, um den ich ihn glühend beneidete. »Wie man’s nimmt. Wie sehr hängst du an deiner Sonnenbrille?«
»Meinst du die ›Tommy Hilfiger‹, die ich bei dir vergessen habe?«, fragte er, nun eindeutig wacher.
»Ja, genau die. Die ein bisschen so aussieht, als wäre sie aus der letzten Saison«, versuchte ich, den Wert der Sonnenbrille möglichst gering anzusetzen.
»Was? Das nennt man ›retro‹, Schätzchen. Diese Sonnenbrille ist exakt drei Monate alt. Und jetzt sag, was du mit meinem Baby gemacht hast.« Plötzlich klang er hellwach. Und ein klein wenig panisch.
»Draufgesetzt.«
»Oh. Und welchen Eindruck hat deine elfengleiche Kehrseite hinterlassen?«
»Definitiv einen bleibenden. Die Brille ist Schrott«, sagte ich.
Nachdem Hannes stumm blieb, bot ich an: »Ich bestell dir eine neue.« Und einen Buddhismus-Ratgeber, fügte ich in Gedanken hinzu: Endlich frei! Verzicht auf materielle Güter leicht gemacht.
»Nein, lass gut sein, Schätzchen«, antwortete er schließlich zögerlich. »Gib mir am Wochenende einfach einen Cocktail aus, dann passt das schon.«
Damit ließ es sich leben, beschloss ich. Vielleicht wurde der Tag heute doch besser als erwartet.
»Na, bist du schon nervös?«, hörte ich Hannes neugierig fragen.
Wenn ich mich nicht sehr in meinem besten Freund täuschte, setzte er bei dieser Frage ein Grinsen auf, das an Süffisanz, Schadenfreude und belustigter Sensationsgier nicht zu überbieten war.
Meine Hoffnung, dass sich dieser trübe Mittwoch doch noch zum Guten wenden würde, verflüchtigte sich. Dabei war es erst Viertel nach acht. »Nein, nur genervt«, antwortete ich ruppig. »Ich habe verschlafen, meine Haare sehen mehr denn je nach Wischmopp aus, ich hab schon wieder einen Strafzettel bekommen, und zu allem Überfluss ist es seit heute so weit: Ich passe nicht mehr in meine Lieblingsjeans.«
»Oh«, sagte Hannes tief betroffen.
Ja, »oh« hatte ich mir heute Morgen auch gedacht. Es war beileibe nichts Neues, dass sich mein Appetit indirekt proportional zu den Außentemperaturen verhielt. Trotzdem war der erste Tag, an dem ich mich den Tatsachen in Form von etwas großzügiger geschnittenen Klamotten stellen musste, jedes Jahr wieder frustrierend.

 

Es ist tatsächlich ziemlich deprimierend, finden Sie nicht auch? Nicht dass ich unter Komplexen leide… Na ja, nur manchmal, an schlechten Tagen (so wie heute). Im Großen und Ganzen halte ich mich zwar nicht für sensationell, aber immerhin für passabel geraten, mit einer Figur, die zwischen weiblich-schlank (Sommer) und weiblich-griffig (Winter) schwankt. Was mich an dieser leidigen Lieblingsjeans-Angelegenheit hauptsächlich frustriert, ist die Tatsache, dass sie für mich die Funktion eines Mahnmals hat. Eines Sinnbildes dafür, dass jeder eigenen Handlung eine unabwendbare Konsequenz folgt.
Zu viel gefuttert – Lieblingsjeans ade.
Zu viele Schuhe gekauft – Konto überzogen.
Zu viel geraucht – frühzeitige Hautalterung.
Zu viel Alkohol getrunken – Leberzirrhose.
Diese Liste lässt sich beliebig lange fortsetzen, und das ärgert mich.
Willkommen im Leben, werden Sie sich jetzt denken. Ja, ja, ich weiß…
Zurück zu Hannes (der übrigens ein Meister des »Zuviel« ist – komischerweise schert er sich um die Konsequenzen meistens einen feuchten Kehricht).

  

»Arme Sarah«, fuhr er mitfühlend fort. »Aber du musst positiv denken: Heute ist der fünfte November. Endlich ist unser Leckerbissen Raphael wieder aus dem Urlaub zurück!«
»Halleluja«, seufzte ich resigniert. »Der fehlt mir gerade noch. Und hör bitte auf, so anzüglich zu grinsen. Das hört man ja sogar durchs Telefon.«

Mein Kollege Raphael Jordan, seines Zeichens Kriminaloberkommissar im K1 und personifizierter Frauentraum, war vor einem halben Jahr von München nach Regensburg versetzt worden und ersetzte seitdem meinen vormals engsten Kollegen Herbert, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch im Innendienst tätig war. Nachdem Raphael die letzten beiden Wochen im Urlaub gewesen war, lagen erholsame Tage hinter mir, denn Herbert ließ den Dienst mittlerweile geruhsam angehen. Fast zu geruhsam für meinen Geschmack. Die größte Aufregung in seinem Arbeitsalltag bestand nämlich in dem vermeintlich heimlichen Führen einer Strichliste, mit der er die verbleibenden Wochen bis zur Pensionierung abzählte.

»Ich weiß immer noch nicht«, sagte Hannes missbilligend, »ob ich dich für deine Konsequenz bewundern oder verachten soll. Ich würde schon alles dafür tun, einem solchen Adonis nur im Büro gegenüberzusitzen.« Hannes’ Vorliebe für attraktive Männer im Allgemeinen und Raphael im Besonderen war mir durchaus bekannt, sodass ich an dieser Stelle das Gespräch getrost beenden konnte, ohne neuartige Informationen zu verpassen.

Ich verstaute mein Mobiltelefon wieder in der Handtasche und drehte den Zündschlüssel um. Wenzel hustete. Dann verstummte er. Ich drehte den Zündschlüssel ein weiteres Mal. Wenzel hustete wieder, irgendwie asthmatisch. »Wenzel, komm schon! Was hast du denn? Gestern warst du doch noch topfit …«

...

 

Wird Wenzel noch anspringen? Wird Sarahs Winterjeans auch bald zu kneifen anfangen? Und wann gibt's endlich endlich endlich eine Leiche? Wer das - und noch mehr - wissen möchte, kann mittels Klick hier noch ein bisschen weiterlesen (Seite 12 oben). (Oder sich das Buch kaufen, das wäre natürlich auch eine Lösung. )