PROLOG

 

Ihre Hände zittern ein wenig.
Sie bemerkt es und ermahnt sich selbst zur Gelassenheit. Ein bisschen aufgeregt ist sie nämlich schon. Nicht wirklich nervös,eher gespannt, voll freudiger Erwartung – denn heute gibt es noch ein Fest. Wenigstens für sie wird es ein Fest werden. Ein kleines nur, im trauten, engsten Kreis.

Wie lange es wohl dauert? Geduld wird sie brauchen, aber das fällt ihr heute bestimmt nicht so schwer. Immerhin handelt es sich um ein besonderes Treffen an einem Tag, an dem jede Minute ausgekostet werden will! Ob er wohl bettelt? Winselt, fleht? Das wird ein Spaß, sie kann es kaum noch erwarten!

Papa würde schon wieder sagen, sie sei viel zu ungeduldig, wo doch Vorfreude die schönste Freude ist. Ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen.

Sie schlüpft in ihre neuen schwarzen Lederhandschuhe, die sie eigens für den heutigen Tag gekauft hat. Teuer gekauft, um genau zu sein – aber ein besonderer Anlass verdient auch besondere Maßnahmen. Das Leder fühlt sich kühl auf ihrer Haut an.

Schon als kleines Mädchen hat sie sich gern verkleidet und ist dabei nie müde geworden, um jede Kostümierung ein kleines Theaterstück zu arrangieren – mit sich selbst in der Hauptrolle und Papa in allen Nebenrollen. Bei dem Gedanken daran durchbricht ihr leises Kichern die konzentrierte Stille.

Sie sieht sich wieder ins Zimmer schweben, als Mädchen von sechs oder sieben Jahren. Mamas rotes Kleid aus Kunstseide ist ihr viel zu lang, sodass sie es vorn hochheben muss. Wie eine Prinzessin, die einen Ball besucht.
Der Prinz wartet schon, sie ist aufgeregt. Die Prinzessin beherrscht ihren Text perfekt, doch Papa hat schon wieder alles vergessen. Sie seufzt, während Mama ihr begeistert applaudiert. »Das ist doch nicht so schwierig, Papa!«, sagt sie und rollt theatralisch mit den Augen. »Jetzt müssen wir noch einmal von vorne anfangen.« Würdevoll schreitet sie aus dem Zimmer und bereitet sich wieder auf ihren Auftritt vor.

Auch auf ihren heutigen Auftritt ist sie gut vorbereitet.
Zum vierten Mal überprüft sie den Inhalt ihrer Tasche, obwohl sie genau weiß, dass sie nichts vergessen hat. Der rote Lippenstift, das Tuch aus schwarzer Seide, das Lederband, das Messer … Alles da.
Ein letzter Blick in den Spiegel. Perfekt! Sie nickt zufrieden. Auf jeden Fall perfekt für das, was sie heute vorhat. Ihre Haare trägt sie zu einem strengen Zopf gebunden, ihre dunkel geschminkten Augen erscheinen ihr selbst verführerisch. Die Beine wirken in den hochhackigen schwarzen Lederstiefeln endlos – sie wundert sich selbst darüber, wie lang sie aussehen. In das Lächeln auf ihrem Gesicht schleicht sich eine Prise Übermut.
Die Freude über ihren Anblick macht die Schmerzen, die ihr das enge Korsett im Rücken bereitet, wieder wett.

Freude und Schmerz, so nah liegen sie beisammen, denkt sie. Ihre Freude und sein Schmerz.

 

 

EINS

 

»Kommt da noch was her?«, fragte die Kellnerin und bedachte Hannes’ leeres Bierglas mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Ein Helles hätt ich gern noch«, sagte er mit einem übertrieben treuherzigen Lächeln. »Aber selbstverständlich nur, wenn’s Ihnen keine allzu großen Umstände macht.«
»Passt schon«, antwortete sie gnädig, griff sich das leere Glas und ließ dabei ihr Dirndl-Dekolleté wogen.
»An der perlt Ironie ab wie Regen an meinen frisch imprägnierten Ballerinas«, stellte ich fest, nachdem die Bedienung wieder entschwunden war.
»Ironie?«, fragte Linda verwundert.
»Passt schon«, antwortete Hannes nun seinerseits und zwinkerte mir zu. Mit unseren Spitzfindigkeiten war Linda schließlich schon immer überfordert gewesen.

Grinsend ließ ich meinen Blick durch den voll besetzten Biergarten schweifen. Jede Menge Touristen, die ratlos auf die Speisekarten starrten und schließlich das vermeintlich unverfängliche »Schnitzel Wiener Art mit Bratkartoffeln« bestellten. Zweifel an der Wahl kamen immer erst dann, wenn sie des Schnitzels in Pizzagröße ansichtig wurden. Dabei hatte man den Hund doch extra zu Hause gelassen.
Gerade tröpfelte eine neue Touristengruppe durch das Tor. Keine Ahnung, wo die noch Platz finden wollten. Anscheinend war auch der Reiseleiter – leicht zu erkennen am obligatorischen Schildchen in der Hand – diesbezüglich überfordert. Er sah sich suchend um, während immer mehr Mitglieder der Reisegruppe in den Biergarten schwappten und die Wege zwischen den Tischen blockierten. Fluchend bahnte sich unsere Bedienung mit drei vollen Tellern auf dem Arm ihren Weg. Selbst schuld, wenn man ausgerechnet in einem Biergarten im touristischen Epizentrum Regensburgs anheuerte.

Auch die vier älteren Herren, die am Tisch neben uns Schafkopf spielten, waren auf die Neuankömmlinge aufmerksam geworden.
»Schon wieder so eine Horde. Jedes Jahr werden’s mehr«, sagte einer und schüttelte den Kopf.
»Sei doch froh«, antwortete sein Tischnachbar. »Das kurbelt die Wirtschaft an, was Besseres kann der Stadt gar nicht passieren.«
»Wenn die bloß nicht immer so einen Radau machen würden«, sagte der Dritte und warf dem Pulk einen grantigen Blick zu.
»Dann hör halt weg. Das machst du bei deiner Frau doch auch nicht anders«, sagte schließlich der Vierte und spielte die nächste Karte aus.

Die schönsten Plätze, direkt an der Donau, hatten sich an diesem Tag ein paar Studenten gesichert. Ihrem Lärmpegel nach zu urteilen, saßen sie schon seit dem Mittag hier und feierten ihre Semesterferien mit einer Maß nach der anderen.
Im Schatten der Lindenbäume ließ es sich aber auch wirklich aushalten. Eine sanfte Brise hatte endlich die Hitze des Tages vertrieben, und der Blick über den Fluss, der die letzten Sonnenstrahlen des Tages glitzernd reflektierte, auf die Steinerne Brücke und die dahinter liegende Altstadt mit den in den Himmel ragenden Domtürmen erwärmte immer wieder mein Herz.

»Können wir uns jetzt bitte endlich wieder meinem Problem zuwenden?« Nicoles leidende Stimme riss mich abrupt aus meinen heimatlichen Wonnegefühlen. Theatralisch schüttelte sie ihren tizianroten Wuschelkopf und warf einen auffordernden Blick in die Runde.
»Aber natürlich«, antwortete Linda und legte ihre Hand auf Nicoles.
»Wenn’s sein muss.« Hannes’ Begeisterung hielt sich anscheinend in Grenzen, und auch ich konnte mir Amüsanteres vorstellen, als die verbleibende Zeit des obligatorischen Sonntagabends im Kreis meiner drei besten Freunde damit zu verbringen, über Nicoles derzeitige emotionale Notsituation zu debattieren.
Für Nicole jedoch war Lindas Mitgefühl Aufforderung genug. »Also, was meint ihr? Soll ich noch mal versuchen, mit Jürgen über alles zu reden?«
Ich stöhnte unwillig auf. Diese Frage hörte ich heute zum gefühlten zwanzigsten Mal. So renitent konnte doch kein Mensch sein! Dem musste ich ein Ende bereiten, und zwar sofort.
»Liebste Nicole, zum allerletzten Mal: Er hat eine andere angebaggert und versucht, ihr die Zunge in den Hals zu stecken, und das, obwohl ihr gerade mal seit drei Wochen zusammen seid. Er war so idiotisch und hat sich dafür auch noch jemanden gesucht, der dich kennt – wie blöd kann man eigentlich sein? Und er hat darüber selbst kein Sterbenswörtchen verloren. Hätte Sandra dich nicht doch noch angerufen, dann wüsstest du davon bis heute nichts!«
Hannes sah mich warnend an, doch ich hatte keine Lust, mich zu bremsen. Den Frust über Nicoles Dummheit in Männerangelegenheiten schluckte ich schon viel zu lang hinunter.
»Du bist völlig zu Recht ausgeflippt. Und jetzt ist er dreist genug, sich nicht mehr zu melden und dich zappeln zu lassen! Und du willst ihm auch noch nachlaufen? Ganz ehrlich, aber das ist völlig krank!«
Hannes fixierte scheinbar interessiert einen Punkt am gegenüberliegenden Ende des Biergartens, und Linda, die während meiner Ansprache betreten mit ihren nackten Zehen im Kies gewühlt hatte, summte peinlich berührt vor sich hin. Vielleicht war ich doch ein wenig zu laut geworden?

...

 

Wer es sich jetzt im Biergarten noch ein bisschen gemütlich machen will, der kann mittels Klick hier noch ein Stückchen weiterlesen. Wundern Sie sich aber nicht, wenn Ihnen kein Bier serviert wird. Die Dame ist heut' überlastet.